Die Digitalisierung beschäftigt uns alle jeden Tag. Sie verändert unser Leben, sie ist disruptiv! Ganz natürlich adaptieren wir Technologien und neue Geschäftsmodelle, die vor wenigen Jahren undenkbar waren und nutzen Dienstleistungen, für die wir „früher“ auch keinen Bedarf hatten. Gleichzeitig gibt es immer noch alte Geschäftsmodelle, wie das der Energiewirtschaft, welche sich viel zu wenig verändern und das, wo sie doch im Grunde nur von einem natürlichen, aber immer mehr erodierendem Infrastrukturmonopol profitieren. Ja, es wird auch in der Energiewirtschaft digitalisiert, doch viel zu langsam im Vergleich zu der Geschwindigkeit vom Rest der Welt. Es gibt halbherzig initiierte Programme, wenig Innovation und keine wirkliche Veränderungsbereitschaft. Es bleibt die Frage: Warum ist das so und wann gehen die Lichter aus?
Warum sich alles verändert – Digitalisierung & Disruption beruhen vor allem auf Plattform-Ökonomie, neuen Geschäftsmodellen und verschobenen Kundenschnittstellen
Die Digitalisierung ist schon lange kein Schlagwort mehr, ein weiterer Hype oder lediglich eine weitere Anpassung von IT-Systemen. Die Digitalisierung ist ein Paradigma, welche die Karten neu mischt: Es geht um neue Technologien, die ein neues Denken erzwingen, da sie industrieübergreifend für das Zusammenwirken der Kräfte, von Wertflüssen, Märkten und Geschäftsmodellen neue Möglichkeiten schaffen. Digitalisierung bedeutet vieles, z.B. auch Disruption durch Plattformökonomie, wodurch der mittellose David dem kapitalintensiven Goliath ein Schnippchen schlagen kann. Klassische Geschäftsmodelle wie in der Energiewirtschaft, die sich im Wesentlichen darauf fokussieren, natürliche Infrastrukturmonopole zu bearbeiten, werden -wenn überhaupt- nur stark gestutzt überleben. Aber in der Energiewirtschaft verändert sich viel zu wenig: Es gibt halbherzig initiierte Programme, wenig Innovation und keine wirkliche Veränderungsbereitschaft. Es bleibt die Frage, warum das so ist und wann die Lichter ausgehen? Sicherlich sehr polemisch formuliert, aber die Frage ist berechtigt.
Wie erwähnt, ist die Plattformökonomie eine der wesentlichen Eigenschaften der Digitalisierung. Geschäftsmodelle, die beliebig skalierbar sind und ungleich mehr Kunden ansprechen können, werden dominieren. Interessant ist dabei, dass der Plattformbetreiber nicht einmal eigene Produkte oder Dienstleistungen anbieten muss. Es genügt, dass man die grösste Plattform betreibt und die meisten potentiellen Kunden ansprechen kann, alles andere folgt von selbst. Nicht ohne Grund investieren Startups wie Uber, Amazon, Google und Co. heutzutage jahrelang in ihre Plattform, bevor erstmals Gewinne erzielt werden. All diese Unternehmen haben auf maximales Wachstum der Kundenanzahl abgezielt, bevor Erträge überhaupt als konkretes Ziel definiert wurden. Zu Recht, wie sich zeigt, denn diese Unternehmen sind nicht mehr wegzudenken aus unser aller Lebenswirklichkeit. Warum? Weil sie kritische Schnittstellen kontrollieren, zum Beispiel die heiss begehrte Kundenschnittstelle!
Hier beginnt das Problem bzw. hat schon lange Anlauf genommen, scheinbar völlig unbeachtet von vielen klassischen Industrien. Wer braucht denn morgen eigentlich noch das Kundencenter des Energieversorgers, wenn man seinen Strom beliebig online abonnieren kann? Wer braucht überhaupt noch eine Online-Schnittstelle zu seinem Energieversorger, wenn man Energie wie ein beliebiges undifferenziertes Verbrauchsprodukt bezieht, welches einfach vorhanden ist, weil es beispielsweise als „give away“ beim Kauf des Elektroautos mitgegeben wird?
“Niemand braucht in der Zukunft den #Energieversorger, wie er heute aufgestellt ist, weil dieser so schlicht nicht mehr relevant sein wird.“
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Wer wird überhaupt noch aktiv über Energie nachdenken, wenn es doch eigentlich um das Wohlbefinden von der Familie geht, welches im „bundle“ als „Happy Family Package“ bezogen wird und Strom, Telefon, Internet, frisches Gemüse und die wichtigsten Versicherungen umfasst? Und wer denkt dann überhaupt noch an den Energieversorger und seine kleinteiligen Tarife und vielen Formulare? Niemand! Niemand braucht in dieser Zukunft den Energieversorger, wie er heute aufgestellt ist, weil er schlicht nicht relevant ist. Nicht relevant, weil er nicht mehr gesehen wird, sondern weil seine Produkte und Services in anderen untergehen und die Kundenschnittstelle ein für alle Mal verloren ist. Denn bis auf ein paar Enthusiasten wird niemand mehr ein Formular ausfüllen, um den Stromtarif zu wechseln. Und sogar diese Enthusiasten sind nur eine Frage des demographischen Wandels. In sehr naher Zukunft werden die „Happy Family Pakete“ vielleicht über die Lieblings-App mit einem Fingerklick am Handy bestellt: Keine Formulare, keine verschiedenen Anbieter mit unterschiedlichen Vertragsklauseln für unterschiedliche Produkte und nur noch eine (neue) Kundenschnittstelle.
“Zukünftig wird in einem liberalisierten Strommarkt ein künstlich-intelligenter Assistent für uns das beste Produkt auf Basis unseres individuellen Verbrauchsprofils ermitteln.“
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Vieles davon klingt für die Versorger bedrohlich und wird sicher auch in der ein oder anderen Weise auch später einmal staatlich (teil-)reguliert, denn natürlich haben extrem grosse Plattformen ähnliche Eigenschaften für den Markt wie andere Monopole. Aber die Vorteile für den Kunden sind enorm und der Markt wird sich in diese Richtung entwickeln. In einem liberalisierten Strommarkt findet der persönliche künstlich-intelligente Assistent des Kunden das optimale Produkt einfach auf Basis seiner tatsächlichen Verbrauchs- und Präferenzprofile (Datenpunkte) sowie dem objektiv bestem Marktangebot (erneut Datenpunkte). Im Zweifel ist das Produkt sogar noch deutlich günstiger, da die Plattform, über die der Kunde dann seinen Strom beziehen kann, als „Grosshändler“ deutlich günstigere Preise anbieten kann, als der Stromversorger, den man direkt anfragen würde. Zurück bleibt nur ein Energieversorger ohne Kundenschnittstelle, ohne Marktinformationen und ohne ein relevantes Portfolio, nur mit dem natürlichen, aber stark regulierten Monopol der Netzinfrastruktur.
Es gibt viele Einzelmassnahmen, doch an das grosse Ganze traut sich niemand
Es gibt eine Vielzahl von Initiativen, Investitionen und Veränderungen durch die Energiewirtschaft in den letzten 20 Jahren. Angefangen mit dem etwas forcierten Umbau in Richtung (a) erneuerbare Energien, über (b) neue Geschäftsfelder, (c) strukturell-organisatorische Anpassungen, (d) „Digitalisierungsmassnahmen“ und mehr. Aber die wenigsten dieser Initiativen, die alle zusammen grosse Investitionsvolumina verschlungen haben, konnten die Energiewirtschaft auch nur halb so fundamental verändern, wie es vor dem Hintergrund der oben beschriebenen erwarteten Veränderungen nötig gewesen wäre. Wobei die Schuldfrage zwischen Unternehmen, Politik, ihrem mangelndem Mut und fehlendem strategischem Blick für die Entwicklungen der Branche nicht klar zu beantworten ist.
Trotzdem ist die Liste der positiven Beispiele lang und würde Bücher füllen. Im Folgenden nur einige wenige Beispiele:
- Viele Unternehmen haben sich neu erfunden und ihre sozio-ökonomisch-ökologische Verantwortung erkannt, welche sich in Stromsparberatungen, „grünen“ Strompaketen oder grosszügigen Spenden für Forschung in dem Bereich Nachhaltigkeit äussert. Das ist gut, denn es verändert zum einen die Erzeugungsstruktur zu nachhaltigen Alternativen. Zum anderen zeigt sich, dass es hilft, den Verbraucher für die Energieversorgung zu interessieren, ihn zum Beteiligten zu machen.
- Unzählige Geschäftsmodelle werden nach ihrer Passfähigkeit zu den klassischen Strukturen in der Energiewirtschaft untersucht und akquiriert, wobei oft im Vordergrund steht, dass man dem Shareholder die Investitionen politisch „schön verpacken“ kann (Green-Washing), indem beliebige Argumentationen herhalten müssen, die meist nicht auf Neuausrichtung zielen, sondern nur auf mehr oder weniger aufwendige Kopien (z.B. Kundenkontaktzentren, E-Mobile für den Aussendienst etc.). Auch wird richtigerweise mit Themen wie zum Beispiel Smart Home, E-Mobility und Breitbandausbau an neuen Geschäftsmodellen gearbeitet, die hochgradig relevant für eine Neuausrichtung sind. Leider jedoch werden die Bemühungen oft eingestellt, weil der ROI (Return on Investment) in der Business Case Kalkulation nach 5 Jahren immer noch negativ war. Zum einen ist der Wert solcher ROI Informationen bei strategischen Veränderungen zu hinterfragen, zum anderen sind oftmals die Betrachtungsgrössen schlicht falsch. Eine Vielzahl von zukünftigen Geschäftsmodellen rechnet sich einfach nicht für Kundenstrukturen, wie sie typischen Siedlungsgebiete mit 100.000 Einwohnern haben. Möglicherweise rechnen diese sich erst ab einer Grössenordnung von 20 Millionen potentiellen Nutzern! Plattformgeschäftsmodelle zwingen daher auch zu anderen gesellschaftsrechtlichen Strukturen oder Kooperationsmodellen. Hier ist sicherlich das grösste Potential zu finden: Dem Aufbrechen der Do-it-Yourself-Mentalität zu Kooperationen und Partnerschaften in allen denkbaren Bereichen.
- Desweiteren hat man in den letzten Jahren diverse strukturell-organisatorische Veränderungen gesehen, so zum Beispiel haben sich die deutschen Energieversorger RWE und E.ON zunächst konzernintern mehr oder weniger parallel ähnliche Strukturen von einer Art „good-bank“ und einer „bad-bank“ gegeben, nur um sich in 2018 über einen Aktientausch jeweils mehr zu spezialisieren und sich in der Wertschöpfung zu ergänzen, anstatt zu konkurrieren. Weitere gesellschaftsrechtliche Anpassungen sind Kommunalisierung und Re-Kommunalisierung, welche sich je nach Kapitalbedarf von Kommunen, politischer Einflussnahme, bzw. Eigenkapitalanforderungen von privaten Investoren wahrscheinlich diverse Male wiederholen werden und zu immer neuen Kombinationen führen werden.
- Auch das grosse Feld der Digitalisierungsinitiativen ist breit bearbeitet, erschöpft sich aber viel zu oft in kleinteiligen Programmen oder eher endogenen Programmen zur Effizienzhebung durch diverse Automatisierungen interner Prozesse. Es gibt hier auch bemerkenswerte Prototypen wie die Nutzung von Blockchain zur Abrechnung zwischen Parteien in Microgrids oder (positiv formuliert) das wachsende Verständnis für die Bedrohungen des Cyber Space.
“Häufig fehlt in der #Energiewirtschaft Mut und strategischer Weitblick.“
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All diese Beispiele zeigen das bunte Bild von Einzelmassnahmen in der Energiewirtschaft. Auffallend ist die sehr inkrementelle Entwicklung, oftmals folgen auf 3 erfolgreiche Schritte 2 Rückschritte. Häufig fehlen Mut und strategischer Weitblick oder die oft sehr kleinteilige Gesellschaftsstruktur steht disruptiven Veränderungen entgegen. Das Grosse Ganze, zum Beispiel im Sinne einer Positionierung in der neuen digitalen Wertschöpfung (Plattformökonomie, Partnerschaften, Verbünde, Technologien etc.), fehlt zumeist vollständig.
Es gibt keinen „richtigen Weg“, aber Zögern ist keine Option
Die Frage, was nun der richtige Weg, welches die optimale Entscheidung für das weitere Vorgehen ist, drängt sich auf, läuft aber ins Leere. Die Rahmenbedingungen der verschiedenen Versorger sind sehr unterschiedlich und auch die Abhängigkeiten, beispielsweise von ungeliebten Verbindlichkeiten wie rückzubauenden Atomkraftwerken, variieren. Es liegt auf der Hand, dass die angestossenen Veränderungen der Digitalisierung unaufhaltsam sind. Sie sind ein Paradigma und sind Priorität allen Handelns. Gegen diese anzukämpfen oder einfach Abzuwarten ist keine Option. Es ist die Aufgabe von Management und Mitarbeitern, Entscheidungen voranzutreiben, welche die bestehenden Unternehmen auf einen Platz in der digitalen Wertschöpfung vorbereiten und Massnahmen dahingehend umsetzen. Trotz grosser Plattformen und der Unmöglichkeit, dass es nicht viele Googles geben kann, wird es weiterhin eine Daseinsberechtigung für die Energieversorger geben. Ganz sicher nicht in ihrer heutigen Anzahl und auch sicher nicht mit ihrem heutigen Leistungsportfolio. Die konkrete Chance herauszuarbeiten, wie zum Beispiel die Schaffung eines überregionalen, integrierten Verkehrsanbieters durch Zusammenschluss mehrerer Verkehrs- und Dienstleistungsunternehmen, oder desjenigen der eine lokale „Paketierung“ von Leistungen vornimmt (lokaler Strom, lokaler Gemüsehändler und lokaler Autoverleih) bevor diese lokalen Leistungen von einer internationalen Plattform alloziert werden, obliegt den einzelnen Versorgern. Am Ende handelt es sich bei der Suche auf dem „richtigen Weg“ der Digitalisierung um eine Risikoabwägung, die am Ende durch den Markt entschieden wird.
Zusammenfassung
“Die #Energiewirtschaft hinkt anderen Industrien in Sachen Digitalisierung hinterher.“
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Die Energiewirtschaft ist weit entfernt von den Digitalisierungsentwicklungen anderer Industrien. Zudem droht das aktuelle Geschäftsmodell zu erodieren. Verschiedene Einzelmassnahmen sind nachweisbar und es gibt sehr gut Ansätze. Die meisten dieser Ansätze sind jedoch inkrementell und zielen nicht auf das strukturelle Problem, wie man sich zukünftig in einer „digitalen Wertschöpfung“ positionieren sollte. Dies zu definieren muss das priorisierte Ziel sein. Die Frage ist dabei nicht, ob sich Unternehmen der Energiewirtschaft hier positionieren, sondern – unter Berücksichtigung der Risikoprofile und individuellen Voraussetzungen -, dass sie sich verändern.